40. Kapitel
Es stank nach Blut, der Gestank breitete sich aus wie ein unsichtbarer Nebel, hing über Tischen und Stühlen, dem kalten Steinboden. Mikhail widerstand der Versuchung, seine Augen zuzumachen. Die drei Mädchen waren tot, bleich, ausgeblutet. Ihr Lebenssaft hatte die Tischdecken durchtränkt; auch die Gesichter der Vampire waren damit verschmiert. Mikhail war bewusst, dass diese sich jederzeit gegen ihn wenden, dass als Nächstes er auf dem Speisezettel landen könnte. Aber das fürchtete er nicht.
Er hatte nur Angst um die Kinder, die man in einem Zimmer im ersten Stock festhielt, und um die Frau, die in einer Ecke der großen Halle kauerte. Mikhails Blick suchte Nells zierliche Gestalt, die untröstlich vor und zurück schaukelte. Sie hatte die Arme um ihre Beine geschlungen und den Kopf auf ihre Knie gebettet. Er wäre so gerne zu ihr gegangen, um sie in die Arme zu nehmen und ihr zu versichern, dass alles gut werden würde. Aber um die Wahrheit zu sagen, war er sich nicht sicher, ob das alles hier wirklich gut ausgehen würde.
Ramil neben ihm richtete sich auf. Seine schwarz verfärbten Augen funkelten, sein Mund war blutverschmiert. Mit glasigem Blick schaute er sich um und hob dann gebieterisch die Arme.
»Und nun lasst uns mit dem Fest des Lebens beginnen!«
Die Vampire erhoben sich trunken und gingen wankend zu dem Stuhlkreis in der Mitte des Saals. Mikhail rührte sich nicht in der Hoffnung, dass man ihn übersah.
»Du kommst mit uns«, befahl Ramil und gab ihm einen gebieterischen Wink. So viel zur Hoffnung, dachte Mikhail und erhob sich mit gesenktem Blick. Fieberhaft versuchte er sich zu erinnern, was jetzt kam; er hatte erst kürzlich über diese Zeremonie in dem Buch gelesen, das Margaret für ihn eingemerkt hatte. Die Vampire würden in dem Kreis Platz nehmen, die Blutschale würde an die Vampirmänner weitergereicht werden ... Er schaute hastig zu Anastasia hin. Er war ihr bei seiner Ankunft vorgestellt worden, offenbar war sie Ramils Geliebte - oder eine davon. Anastasia hatte die Blutschale in den Händen, die Schale mit Nells Blut!
Als Anastasia merkte, dass er sie ansah, trat sie auf ihn zu. »Warum setzt du dich nicht neben mich? Ich könnte vielleicht Durst bekommen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie ihn zu dem Stuhl, der neben dem ihren stand. Die meisten Kerzen waren gelöscht worden, sodass die Halle nun im Halbdunkel lag. Mikhail konnte die Gesichter der Vampire kaum noch erkennen. Da setzte plötzlich Musik ein: zwei Geigen.
Bevor Mikhail sich noch fragen konnte, woher die Musik plötzlich kam, schnalzte Ramil missbilligend mit der Zunge.
»Eine ungerade Zahl. Nein, das geht wirklich nicht!« Er wandte sich theatralisch um. »Würde unsere charmante Blutspenderin die Freundlichkeit haben, sich uns anzuschließen? Nachdem sie uns netterweise mit ihrem Lebenssaft ausgeholfen hat, ist das doch das Mindeste, was wir für sie tun können!«
Dieser Bastard! Mikhail war sofort klar, dass Ramil dies von Anfang an so geplant hatte. Was nur bedeuten konnte, dass er Nell zur Partnerin wollte. Aber er war offenbar nicht der Einzige, dem dies gerade klar geworden war: Anastasias Augen blitzten vor Wut. In der Hoffnung, sich ihre Eifersucht zunutze machen zu können, beugte er sich zu ihr.
»Wenn du sie mir gibst, gehört Ramil dir.«
Sie zischte, sagte aber nichts. Mikhail konnte nur hoffen, dass Anastasia helfen würde, denn wenn nicht... Was dann geschehen würde, konnte und wollte er nicht zulassen. Lieber starb er, als mit ansehen zu müssen, wie Ramil Nell missbrauchte.
»Blutspenderin?«, drängte Ramil. Erst jetzt merkte Mikhail, dass Nell sich nicht geregt hatte. Sie musste aufpassen! Sie musste wachsam bleiben und tun, was man von ihr verlangte - bis zu einem gewissen Punkt, jedenfalls. Und dann würden sie kämpfen, mit allem was sie hatten.
»Nikolai, bring sie her. Offenbar hat sie Probleme beim Aufstehen.«
Mit einem wütenden Zischen beobachtete Anastasia, wie Nell nun in den Kreis gezogen und auf einen Stuhl gedrückt wurde. Sie wehrte sich nicht, verharrte reglos wie eine Puppe. Das Stimmengewirr erstarb, die Geigenmusik gewann an Tempo. Eine feierliche Stimmung machte sich breit. Aller Augen waren auf eine kleine rothaarige Vampirfrau gerichtet, die mit der schwarzen Schale in die Mitte des Kreises trat.
Nachdem sie kurz dort verharrt war, näherte sie sich einem Mann, der vier Stühle zur Linken von Mikhail saß. Sie bot ihm die Schale zum Trinken an, und der Vampir nippte an Nells Blut. Dasselbe geschah bei den zwei Vampiren neben ihm. Dann übersprang sie Anastasia und trat vor ihn hin.
Entsetzt sah Mikhail, wie sie auch ihm die Schale anbot. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Aller Augen, bis auf Nells, waren auf ihn gerichtet. Sein Herz hämmerte laut in seinen Ohren. Die Frau mit der Schale entblößte zischend ihre Fangzähne. Da Mikhail die Vampire nicht provozieren wollte, nahm er die Schale mit kalten Fingern in Empfang.
Das ist nicht ihr Blut. Es ist überhaupt kein Blut, versuchte er sich einzureden. Seine Lippen berührten den Rand der Holzschale, die sich warm anfühlte. Er nahm einen winzigen Schluck. Das Blut war lauwarm, schmeckte salzig und metallisch. Er musste sich zwingen zu schlucken. Sein Blick huschte unwillkürlich zu Nell hinüber. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war nicht Angst. Es war schierer Terror.
Nachdem die Rothaarige ihre Runde beendet hatte, begann sie erneut, diesmal bei den Frauen. Sie tauchte einen Finger in die Schale und zeichnete eine vertikale Linie auf die Stirnen der Frauen, wobei sie sich Nell für zuletzt aufhob. Mikhail sah, wie Nell zusammenzuckte, als die Vampirfrau ihre Stirn mit einem blutgetränkten Finger berührte. Danach wurde die Schale beiseitegestellt.
Mikhail graute vor dem, was jetzt kam. Die Frauen würden sich einen Partner suchen und mit ihm das Fest des Lebens begehen. Sie würden sich in eine der zahlreichen Kammern der Burg zurückziehen und sich dort paaren. Nur Clanführer durften ihre Partner selbst wählen, ob Mann oder Frau. Mikhail war ziemlich sicher, dass Ramil sich für einen Clanführer hielt. Wenn er also Nell wählte ...
Mikhail wartete voller Bangen auf den Beginn der Auswahlzeremonie, den Blick auf die im Halbdunkel liegenden Gesichter der Vampire gerichtet. Die Geiger spielten nun eine wehmütige, melancholische Melodie. Er konnte sie noch immer nicht erkennen, sie standen im Dunkeln am Rande der Halle. Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit, und er wandte den Blick einer zierlichen Brünetten zu. Sie öffnete die Silberspange ihres Umhangs und ließ ihn über die Lehne des Stuhls fallen, auf dem sie saß. Die anderen Vampire folgten ihrem Beispiel.
Jetzt waren nur noch Mikhail und Nell bekleidet.
Verdammt, von diesem Teil der Zeremonie hatte nichts in dem Buch gestanden! Die Vampire schauten ihn erwartungsvoll an. Als er zögerte, gab Ramil zweien seiner Leute einen Wink, und Nells Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Warte! Wir können uns selbst entkleiden«, knurrte Mikhail zornig. Er starrte Ramil ergrimmt an. Dieser winkte lachend seine Männer zurück.
»Na, dann los.«
Nells Augen hingen an den seinen, und Mikhail war froh darüber. Er nickte ihr aufmunternd zu und begann sein Hemd aufzuknöpfen. Nell folgte seinem Beispiel und öffnete die runden Knöpfe ihres Kleids, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet. Plötzlich musste Mikhail an die Nacht zurückdenken, als er sie entkleidet hatte. An ihr scheues Einverständnis, an ihre zarte Haut, die sich so herrlich unter seinen Fingern angefühlt hatte. Als sie beide nackt waren, vermochte Mikhail ihr nicht mehr in die Augen zu sehen. Es war unrecht, sie in einem Augenblick zu begehren, in dem die Hand des Todes über ihnen schwebte.
In diesem Moment erhob sich die zierliche Brünette und lenkte ihn von seinen lasziven Gedanken ab. Langsam den Kreis durchquerend, näherte sie sich dem Vampir, der die drei Mädchen in den Saal gebracht hatte. Sie blieb vor ihm stehen und ging in die Knie. Er beugte sich vor und drückte seine Stirn an die ihre. Zusammen erhoben sie sich und verschwanden. Eine weitere Vampirfrau erhob sich, diese blieb vor Nikolai stehen.
Als Nächstes war Anastasia an der Reihe, und zu Mikhails größtem Entsetzen blieb sie vor ihm stehen! Er wollte protestieren, doch da hatte sie ihn bereits bei der Hand gepackt und quer durch den Kreis vor Nells Füße geschleudert!
»Menschen sind es nicht wert, dass wir ihnen auf diese Weise unsere Aufmerksamkeit schenken!«, rief sie so laut, dass es durch den Saal hallte. »Wir feiern das Fest des Lebens! Unseres Lebens und nicht das der Menschen! Aus einer solchen Vereinigung könnte heute Nacht ein Kind entstehen, ein neues Mitglied unserer Gemeinschaft!«
Die Menge jubelte. Mikhail hatte sich lediglich auf die Ellbogen aufgerichtet, um Anastasias Rede ja nicht zu stören. Ein Glück für ihn, dass sie so eifersüchtig war!
»Los, Menschlein, nimm dir deine menschliche Partnerin. Oder muss ich dir erst zeigen, wie man das macht?«
Das ließ Mikhail sich nicht zweimal sagen. Ramils Gesicht war furchterregend, aber Mikhail beachtete ihn nicht. Er ging vor Nell auf die Knie und schaute zu ihr auf. Sie fragte ihn mit den Augen, was sie jetzt tun sollte. »Beug dich vor«, flüsterte er. Ihre nackten Brüste mit den Händen bedeckend, beugte sie sich vor und drückte ihre Stirn an die seine. »Und jetzt nimm meine Hand, Nell«, sagte Mikhail so sanft er konnte. Sie richtete sich auf und gab ihm scheu ihre Hand. Erleichtert hielt er ihre kalten Finger in den seinen. Zusammen erhoben sie sich, nackt wie am Tag ihrer Geburt, eingekreist von Vampiren, denen bei dem Gedanken, ihnen das Blut auszusaugen, das Wasser im Munde zusammenlief. Langsam setzte sich Mikhail in Bewegung, begann Nell aus dem Kreis hinauszuführen.
Doch dann merkte er, dass die anderen Paare den Saal überhaupt nicht verlassen hatten. Einige wälzten sich auf den Tischen, und ein Paar kopulierte mitten auf dem Boden. Als könne er Mikhails Gedanken lesen, sagte Ramil lachend: »Schön hier geblieben, Menschlein.«
Mikhail verzog das Gesicht. Sein Blick fiel auf den großen Kamin am Ende des Saals. Davor stand, vom Betrachter abgewandt, ein hoher Ohrenbackensessel. Mit Nell an der Hand steuerte Mikhail sofort darauf zu. Geschützt vor beobachtenden Blicken, setzte er sich in den Sessel und zog Nell auf seinen Schoß, wobei er darauf achtete, dass sie möglichst weit vorne auf seinen Knien saß.
»Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt. Er streichelte ihre Wange, ihr Haar. Sie nickte, das Gesicht schamhaft gesenkt, die Hände auf ihren Brüsten, die Haare wie einen Umhang um sich gebreitet.
»Die Kinder?«, fragte sie leise.
»Denen fehlt nichts. Ramil will sie als Druckmittel benutzen, er wird ihnen nichts antun«, versicherte er ihr.
»Gut«, stieß sie erleichtert hervor. »Mikhail.« Nell schloss zitternd die Augen, ließ die Hände kraftlos in den Schoß fallen. »Ich kann meine Zukunft nicht mehr sehen«, flüsterte sie verzweifelt.
»Was soll das heißen?« Mikhail hob ihr Kinn, suchte ihren Blick. »Nell?«
Als sie ihn schließlich ansah, fiel ihm auf, dass der vorher so ängstliche Ausdruck in ihren Augen tiefer Traurigkeit gewichen war. Er konnte sehen, wie sie jetzt, in diesem Augenblick, aufgab. Sie hörte auf zu zittern, ihr Gesicht war bleich, ihre Augen leer.
»Nein, Nell, das will überhaupt nichts heißen!«, flüsterte er. Voller Verzweiflung begann er sie zu schütteln. »Das kannst du doch nicht wissen!«
Sie wehrte sich nicht, sagte kein Wort. Doch dann lächelte sie plötzlich, legte die Hände auf seine Brust und begann ihn zu küssen.
Mikhail erwiderte die Liebkosungen, ließ Küsse auf ihren Hals, ihre Brüste regnen. Der Gedanke, sie verlieren zu können, machte ihn fast wahnsinnig. Angestachelt durch das Stöhnen der Vampire und Nells süße Seufzer zog er sie an sich, vergrub seine Hände in ihrem Haar, strich über ihren Rücken ...
»Mikhail«, seufzte sie an seinem Mund, als er sie leidenschaftlich zu küssen begann.
Nein, er konnte sie nicht verlieren. Er konnte nicht. Ohne sie war sein Leben bedeutungslos. Er packte sie bei den Pobacken und hob sie hoch, dann fühlte er, wie ihn ihre feuchte Hitze umschloss. Sie warf den Kopf in den Nacken, und ihre Haarspitzen streiften seine Oberschenkel. »Mikhail«, stöhnte sie, während er sie an sich zog und sich in ihr zu bewegen begann, schneller, heftiger.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie ihm ins Ohr, und da explodierte die Welt rings um ihn. »Ich liebe dich, Nell«, flüsterte auch er, den Kopf in ihrer Halsbeuge vergraben.